Einmarschiert mit Taschen voll Schokolade
Zeitzeuge Eckhard Schimpf berichtet THG-Abiturient*innen von seinen Erinnerungen an die Zeit der NS-Diktatur
„Die Amerikaner eroberten damals die Jugend im Sturm“, erinnert sich Zeitzeuge Eckhard Schimpf, der auf Einladung des THG den Schülern des 13. Jahrgangs Rede und Antwort stand. Jugendliche können sich heute wohl kaum vorstellen, wie es war, in der Nazi-Diktatur aufzuwachsen. Auch die diesjährige Abitur-Pflichtlektüre „Unter der Drachenwand“, geschrieben von Arno Geiger, befasst sich mit dieser Frage. Das Buch schildert aus der Perspektive eines des Kriegs überdrüssigen jungen Soldaten die damaligen Umstände in drastischer, oft zynischer Weise. In den Erinnerungen Schimpfs wird hingegen eine Normalität sichtbar, die es neben der belastenden Kriegssituation weiterhin gab: Jungen trafen sich zum Fußball spielen, die Mütter verabredeten sich zum Kaffeekränzchen. Während Geiger verschiedene Perspektiven auf die Nazi-Diktatur in seinen Figuren pointiert gegenüberstellt, berichtet Schimpf von einem Alltag, in dem eine Auseinandersetzung mit dem NS-Regime kaum bewusst stattfand. Sprech- und Denkverbote waren omnipräsent und aus Sicht eines in dieser Zeit aufwachsenden Kindes normal. „Man wurde zum Schweigen erzogen“, sagt der heute 83-jährige Schimpf, der erst viele Jahre später begann, die Selbstverständlichkeiten dieser Zeit in Frage zu stellen.
Als Kind ist Schimpf fasziniert von den Waffen und Uniformen der Soldaten. Gleichzeitig sitzt er im Bunker und fragt sich: „Warum schießen Soldaten auf Kinder?“ Auch die Schattenseiten des Soldatenseins, die Geiger so eindrucksvoll darstellt, hat Schimpf mitbekommen. So durfte ein Soldat auf Heimaturlaub bei einem Luftangriff nicht mit in einen Bunker, weil dieser Frauen und Kindern vorbehalten war – stattdessen wurden ihm Vorwürfe gemacht. „Das ist ja schlimmer als an der Front!“, soll er daraufhin gesagt haben. Haben Täter – wie der Soldat Veit Kolbe in Geigers Buch – überhaupt ein Recht auf Beschwerde? Im Roman beklagt sich der Protagonist immer wieder über sein Schicksal, stößt damit aber in seinem Umfeld auf Unverständnis und Ablehnung. „Man beschwerte sich nicht“, stimmt Schimpf zu, „man nahm die Dinge so hin“.
Erst nach dem Krieg, berichtet er, führte eine Lehrerin einen „Erzähltag“ ein, an dem Kinder lernten, darüber zu sprechen, was sie erlebt hatten. Bis heute ist es zum Beispiel so, dass Sirenen in Schimpf ein mulmiges Gefühl auslösen und Erinnerungen an die Bombardierung seiner Heimatstadt Braunschweig zurückbringen, die er selbst am 15. Oktober 1944 miterleben musste. „Da geht alles verloren, was dir vertraut war“, sagt er – einen Wecker, den sein Vater als einziges Besitztum aus dem zerbombten Haus retten konnte, bewahrt er bis heute auf.
Die Berichte aus der Nazi-Diktatur werfen die Frage auf, wie wir selbst als Jugendliche uns in einer solchen Situation verhalten würden. So erzählt Schimpf, wie seine Mutter ihm nach dem Einkauf in einer Bäckerei zuflüsterte, er solle die Brötchentüte unauffällig fallen lassen. Doch der Versuch, bettelnden Jüdinnen zu helfen, die sich wie wild auf die am Boden liegenden Brötchen stürzten, wurde bemerkt, woraufhin man die Polizei verständigte. Brandgefährlich war es, dass der Junge auf die Frage seiner Mutter „Ja, wieso hast du denn die Tüte fallen lassen?“ antwortete: „Du hast es doch gesagt.“ Eine aus heutiger Sicht menschliche Geste war damals unter Strafe gestellt. Zwischen richtig und falsch zu unterscheiden war für Kinder quasi unmöglich – besser also, man hielt seinen Mund.
Ganz anders waren dann die Erfahrungen nach der Befreiung durch die amerikanischen Soldaten. Mit ihrer Lässigkeit und Großzügigkeit brachten sie ein ganz neues Lebensgefühl in die Stadt. „Die hatten immer Süßigkeiten dabei“, erinnert sich Schimpf. Die Frage der Kinder: „Have you chewing-gum?“ hatte stets Erfolg. In den deutschen Familien gab es damals gar nichts, schon gar nicht Schokolade.
Auch wenn es noch lange dauern sollte, bis die Verbrechen der Nazizeit wirklich aufgearbeitet wurden, war mit dem Einmarsch der Amerikaner die Befreiung von den Ängsten und Zwängen der Nazizeit verbunden. Dies war ein Startschuss für die Jugend der Nachkriegszeit, der es plötzlich erlaubt war, selbst zu denken und eine eigene Meinung zu haben – Dinge, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. Bis heute fühlt sich Schimpf den Amerikanern daher verbunden.
Der Austausch mit Eckhard Schimpf macht Unterrichtsinhalte wie Geigers Buch für Schüler greifbarer. Nur wenn man weiß, wie lange Erlebnisse aus Krieg und Diktatur nachwirken können, kann man verstehen, wie es Menschen geht, die solche Erfahrungen gemacht haben. Das sind nicht nur Menschen, die die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg miterlebten, sondern auch viele Flüchtlinge, die heute in unser Land kommen. Denn trotz Pandemie und Schulstress: „Der Jugend geht es heute so gut“ sagt Schimpf, es sei wichtig, dies nicht zu vergessen.
(Klara Rohrmann, Jahrgang 13)