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Sechs Monate als Freiwillige im Waisenhaus „Inn Safe Hands“, Port Elizabeth, Südafrika

Was habe ich erlebt? Eine kurze Frage mit Potenzial für die Länge einer Bachelorarbeit. Aber ich versuche mich kurzzufassen.

Knapp gesagt, habe ich VIEL erlebt. Sechs Monate, ca. 14.000 Kilometer von der Heimatstadt Wolfenbüttel entfernt. Ein Job in einem von Schwarzen und Coloureds dominierten, ärmlichen Vorort brachte zahlreiche Erfahrungen, die in Erinnerung bleiben – positive wie auch negative.

 

Den Müll habe ich zum Beispiel in der Nachbarschaft des Waisenhauses (unteres Bild) fotografiert.

Als ich mich am 29.06.2017, zwei Wochen nach der Verleihung der Abiturzeugnisse, mit all meinem Mut im Gepäck allein von Frankfurt aus mit dem Flugzeug auf den Weg in die etwa 320.000 Einwohner zählende Stadt Port Elizabeth machte, fragte ich mich zunächst, ob das die richtige Entscheidung war. Das Waisenhaus hatte ich im Rahmen des Schüleraustausches am THG an einem Tag kennengelernt, den Kontakt dann zur Leiterin selbst hergestellt und mich alleine – ohne Unterstützung einer Freiwilligenagentur oder ohne andere Freiwillige an der Seite auf den Weg gemacht. Trotz der Worte „Ich kann das nicht.“, die ich meiner Mutter zum Abschied ins Ohr flüsterte, bin ich losgeflogen und kam am 30.06. gegen Mittag am Flughafen in Port Elizabeth an.

Die Leiter des Waisenhauses, Karen und Glendon Hermanus, sowie Mrs. Jennings, Lehrerin der Victoria Park Highschool und Partnerschule des THG, empfingen mich herzlich. Am Abend ging ich mit den Teenagern aus dem Waisenhaus zu ihrem Jugendtreffen in der örtlichen Kirchengemeinde – ein spannender Auftakt: Ich hatte bis dahin noch nie so viele junge Leute gesehen, die sich mit Begeisterung trafen, um Gott zu preisen und um über die Bibel zu sprechen.

In den ersten drei Wochen lernte ich durch gemeinsame Spiele und Aktivitäten die Waisenkinder im Alter von 4 bis 19 Jahren sehr schnell kennen, weil gerade Winterferien waren. Wir entdeckten bei Ausflügen auch Orte, die auch die Kinder zum Teil zum ersten Mal sahen. Überraschenderweise vertrauten mir die Kinder ganz schnell. Auch ihre Dankbarkeit, jemanden Neues zum Spielen und Entdecken zu haben, war verblüffend. Die letzten Freiwilligen waren 2012 dort gewesen. Nach den Ferien begann die Schule für alle Waisenkinder bis auf den Kleinsten namens Cliffy wieder.  

Hier noch etwas zum Schicksal der Kinder: Mit einem Stapel Kleidung ausgesetzt, nach einem Bankraub der Eltern im Wald alleine in der Hitze mehrere Tage zurückgelassen, auf der Straße lebende alkoholkranke Mutter ohne Arbeitsplatz, Rauschdrogen oder AIDS-Tod der Eltern, Missbrauchs- und Gewalterfahrung, Depression und Hoffnungslosigkeit der verbliebenen Familienmitglieder und ihr Leben in kleinen, engen, schmutzigen Häusern in gefährlicher Gegend. Aus diesen Umständen wurden die Waisenkinder von der Polizei oder dem lokalen Gericht entfernt und in das Waisenhaus gebracht – ein deutlich schönerer, sichererer Ort zum Leben.

 

Meine Aufgabe am Nachmittag war es dann, den Kindern stets beim Erledigen von Hausaufgaben, dem Vorbereiten von Referaten sowie dem Lernen für Klausuren und Tests zu helfen.

Vormittags sollte ich eine Vorschule im eher reichen, privilegierten Stadtteil Summerstrand unterstützen. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm waren eklatant.

Während die Kinder in „Inn Safe Hands“ niemanden haben, der sie jeden Tag zur Schule bringt, ihnen zahlreiche Snacks mitgibt und sie bei Schularbeiten unterstützt, ist genau dies in der oben genannten Vorschule der Fall gewesen. Dort gibt es ausreichend Lehrer und Aufsichtspersonen, die sich um die Kinder kümmern, sodass ich mich ziemlich überflüssig bzw. ausgenutzt gefühlt habe. Mit Hilfe von Karen Hermanus hielt ich rasch nach einer anderen Aktivität für den Vormittag Ausschau.

Meine nächste Station wurde ein Projekt für Straßenkinder namens „Kamvalethu Drop In Centre“ in unmittelbarer Nähe zum Waisenhaus. Dort werden circa 50 Kinder von morgens ab 6 Uhr bis mittags/nachmittags 12 (Vorschulalter) bzw. 15 Uhr (Jugendliche bis junge Erwachsene) betreut. Sie erhalten ein Frühstück, ein paar Stunden Unterricht, Mittagessen und ab und zu haben sie künstlerische oder spielerische Aktivitäten am Nachmittag. Das Nachmittagsprogramm organisierte zu meiner Zeit eine Studentin der Sozialpädagogik aus Belgien. Alle Kinder stammen aus sehr armen und schlechten Vierteln. Sie „wohnen“ in Blechhütten, ihre Kindheit ist oft vom Drogen- und Alkoholkonsum, Kriminalität, häuslicher Gewalt und Arbeitslosigkeit der Eltern geprägt. Die Eltern kümmern sich kaum um ihre Ernährung, Gesundheit und Schulbildung. Manche Kinder müssen nachts um Essen betteln oder sogar mit Drogen dealen. Die Jugendlichen, die zum Teil 20 Jahre alt sind, sind bislang nicht zur Schule gegangen, ihr Lernstand befindet sich auf Grundschulniveau. Die Tätigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen bereiten ihnen erhebliche Probleme.

Die Erfahrungen der Straßenkinder sind sehr unterschiedlich im Vergleich zu denen der Kinder im Waisenhaus. Alle Waisenkinder leben relativ geschützt vor den oben genannten Problemen in einem befestigten, sicheren Haus und gehen zur Schule. Sie unterscheiden sich äußerlich (Sauberkeit, Kleidung etc.) sowie intellektuell (Schulbildung und Lebenskenntnisse). Sie sind nicht „streetwise“, das heißt, sie haben nicht gelernt, wie man Menschen auf der Straße bestiehlt oder wie man eine Pistole benutzt etc.

In diesem Zentrum arbeitete ich allerdings aus Sicherheitsgründen nur eine Woche, da ich von einem der Jugendlichen durch anzügliche Kommentare stark belästigt wurde.

Das nächste morgendliche Projekt für die kommenden 2 Monate wurde die Aushilfslehrertätigkeit an der lokalen Grundschule „Abraham Levy Primary School“ im armen Vorort Schauderville, in dem auch das Waisenhaus liegt. Sie bietet Platz für ca. 600 Schülerinnen und Schüler im Alter von 6 bis 13 Jahren (Vorschulklasse „Grade R“ bis 7. Klasse). Ich unterstützte die Lehrer in den Klassen 1 bis 3 hauptsächlich in den Fächern Mathematik, Englisch und Lebenskunde („Life Skills“), indem ich Aufgaben mit Schülern vertiefte und bei verbalen und handgreiflichen Auseinandersetzungen, bedingt durch eine größere Aggressions- und Gewaltbereitschaft, mit vermittelte. Zur Strafe werden die Kinder bis zum heutigen Tage von einigen Lehrern mit einem Stock/Lineal auf die Handfläche geschlagen: Je nach Schwere des Fehlers ein- oder mehrmals. Die Erfahrung von Gewalt, die Schüler teilweise zu Hause erleben, wiederholt sich. Auf meinen Protest hin erklärten die Lehrkräfte, dass das Schlagen die einzige Möglichkeit sei, die Kinder zu disziplinieren.

Disziplin ist generell das A&O in jeglicher Bildungseinrichtung in Südafrika, selbst in der Victoria Park Highschool wird diese durch viele Schilder im Schulgebäude angemahnt.

Der Einübung von Disziplin dient auch die Schulvollversammlung („Assembly“). Alle Klassen stellen sich in schnurgeraden Linien auf, die Schulleiter begrüßen alle Anwesenden auf Englisch und Afrikaans. In „meiner“ Grundschule gehören zur 15-minütigen Versammlung das Beten des Vaterunsers, eine Lesung aus der Bibel und Ansagen für die kommende Schulwoche dazu. Anschließend erhalten die 600 Schüler eine von 3 Köchinnen zubereitete, einfache, warme Mahlzeit. In den Pausen können sie zwar in einer von freiwilligen Lehrern und einer Rentnerin betriebenen Cafeteria Süßigkeiten, Eis und Softdrinks kaufen, aber das Geld reicht aufgrund der hohen Einkaufspreise kaum für gesunde Snacks wie belegte Brötchen. Produkte, die über dem Preis von 1 Rand ( 7 Cent) liegen, finden kaum Abnehmer.

Nach dieser spannenden Arbeit in der Grundschule verbrachte ich die nächsten Schulferien wieder den ganzen Tag mit den Waisenkindern. Immer wieder war ich Konfliktschlichterin bei Streitigkeiten zwischen einzelnen Waisenkindern. Im Mittelpunkt der Konflikte stand häufiger der Streit um Besitztum sowie gegenseitige Beleidigungen der Ursprungsfamilien. Probleme wie Wut waren zu lösen und Beratung bei Freundschaftskrisen war zu leisten.

Mein nächstes und letztes Projekt wurde die Aushilfslehrertätigkeit in einer weiteren Vorschule/Kindertagesstätte namens „Hugs and Kisses“. Diese befindet sich im ungefähr 5 Autominuten vom Waisenhaus entfernten Vorort Gelvan Park. Dort unterstützte ich Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren und Babys im Alter von ca. 12 Monaten bis 3 Jahren. Meine Aufgaben waren bei den Älteren zum Beispiel das Beibringen von Formen, Zahlen, Buchstaben und Notfalltelefonnummern sowie kreative Tätigkeiten wie Malen, Basteln, Tanzen und Singen. Einmal pro Woche half ich beim Schwimmunterricht. Meine Aufgaben bei der Betreuung der Babys waren vor allem Füttern und Aufpassen, dass alle Kinder schlafen. Die Vorbereitung des Abschlusskonzerts im Dezember beendete dieses Projekt.

In meinen letzten Wochen in Süadafrika hatten die Kinder Sommerferien. Während dieser freien Zeit strichen wir die Mauerwände des Waisenhauses nach dem Motto „Colour your life!“ bunt an – ein schönes Gemeinschaftsprojekt, durch das die Kinder mich unter anderem in Erinnerung behalten werden.

Kurz vor meiner Abreise fand noch ein von Sponsoren unterstütztes kleines Feriencamp in einer Jugendunterkunft am Meer in Port Elizabeth statt. Wir kochten gemeinsam, spielten Teambuilding- und Vertrauensspiele und arbeiteten künstlerisch zu den Themen Identität, Wünsche, Träume sowie Wut/Zorn und Ängste. Eine schöne Sache, um kurz vor dem Abschied mit allen gemeinsam Zeit zu verbringen.

Prägende Momente

Ein besonders prägender und für mich sehr stolzer Moment war die Preisverleihung der Abraham Levy Primary School. Meine Schülerinnen und Schüler wurden für besondere/herausragende schulische Leistungen geehrt. Vier der Waisenkinder erhielten Zertifikate für schulische Erfolge, drei von ihnen führten zudem einen spirituellen Tanz auf. Eine prägende Erfahrung: Durch die Schulbildung erhalten die Kinder den Schlüssel zum Erfolg im Leben und zur Zufriedenheit. Es war wunderschön, die Kinder so strahlend auf der Bühne zu sehen, wo ich auch für mein ehrenamtliches Engagement an der Schule geehrt wurde.

Ein weiterer besonders glücklicher Moment war der Abschlussball der Siebtklässler der Abraham Levy Primary School, zu dem ich eines der Waisenkinder begleiten durfte. Es war schön, den Stolz und das Selbstbewusstsein in seinen Augen sowie bei seinen Mitschülern zu sehen. Von dort aus gehen sie in die 8. Klasse einer weiterführenden Schule.

Eine dritte besonders prägende Erfahrung war das Wandern mit einigen der Waisenkinder in den Bergen rundum Port Elizabeth. Es war toll zu sehen, wie ihre Augen beim Anblick der grünen, saftigen Landschaft strahlten, die sie zum ersten Mal aus dieser Perspektive erblickten. Sie genossen die Ausblicke, das Gefühl von Freiheit und Akzeptanz und amüsierten sich mit den Mitgliedern des Wanderclubs.

Es prägen mich nachhaltig aber auch viele negative Erfahrungen: Dazu gehört ganz wesentlich die anhaltende enorme Trennung zwischen Schwarz und Weiß, sehr, sehr oft einhergehend mit der Trennung von Arm und Reich – nicht zuletzt Ergebnis der langen, ausgesprochen harten Apartheidpolitik in Südafrika, die 1993 offiziell ihr Ende fand, aber heute noch überall und tagtäglich zu spüren ist. 80 Prozent der Einwohner Südafrikas sind Schwarze, aber 80 Prozent des Landes ist im Besitz der Weißen. Folgen der großen sozialen Unterschiede sind nicht zuletzt Kriminalität und Abgrenzung. Sehr oft erlebt man Folgendes: Weiße sitzen in schönen Restaurants, Schwarze bedienen.

Die größte persönliche negative Erfahrung ist der Mangel an Freiheit - speziell für eine junge Deutsche. Aus Sicherheitsgründen bin ich nur mit einem alten VW-Golf durch die Straßen gefahren. Alleine – zumal bei Dunkelheit – habe ich mich auch aufgrund eindringlicher Ratschläge durch Karen Hermanus nicht zu Fuß aufgemacht, obwohl ich selbst in einem relativ sicheren Viertel ein Zimmer in einem Gasthaus hatte – aber auch dort vergitterte Türen, Fenster, Tore, elektrischer Draht auf hohen Zäunen, Alarmanlagen. Es fehlte mir das Gefühl von Freiheit und Sicherheit! Zwar boomt die Sicherheitsbranche in Südafrika enorm, aber viele Menschen fühlen sich aufgrund von Schießereien, Entführungen, sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt etc. nicht sicher.

Vieles ließe sich noch erzählen, das einige DINA4 –Seiten füllen könnten. Das Schönste war die Erfahrung von Liebe und Wärme, zu sehen wenn die Kinder glücklich, zufrieden und stolz waren. Jedes Lächeln eines Kindes, das eine schwere Vergangenheit hatte und das bis heute kaum Geld und kaum/ gar keinen Kontakt zu Angehörigen seiner Familie (beispielsweise Tante, Oma) hat, ist besonders viel wert. Insgesamt war die persönliche, enge und sehr herzliche Beziehung zu den Kindern als auch zum leitenden Ehepaar Hermanus eine wunderbare Erfahrung. Ich habe mich sehr willkommen und wertgeschätzt gefühlt. Die Leiter kann ich nun stolz meine südafrikanischen Eltern nennen. Zusammen mit den Kindern bilden wir irgendwie eine große, glückliche Familie, die ich sehr gerne bald wieder besuchen würde.

Warum sind derartige Erfahrungen wichtig?

Ein Freiwilligenprojekt wie dieses ist eine wichtige persönliche Erfahrung. Die Bewältigung von vielen größeren und kleineren Problemen und die vielen neuen Aufgaben machen selbstständiger, selbstbewusster und aufgeschlossener gegenüber anderen Kulturen und Menschen. Auch die Sprachkenntnisse verbessern sich. Der Spruch „Reisen bildet“ trifft hier in jeder Hinsicht zu. Auf einmal geht die Kreditkarte nicht, kein Geld in Sicht, das Auto bleibt auf der Straße in einer gefährlichen Gegend liegen, die Einsamkeit am Abend im Gasthaus ist zu bewältigen, die intensive, für mein Gefühl übersteigerte Religiösität in der Kirche der Waisenkinder überfordert mich, Heimweh kommt auf.

Durch diese sechs Monate habe ich auf eine praktische, direkte Weise selber und sehr eigenständig wertzuschätzen gelernt, was viele von uns im reichen Europa besitzen und als selbstverständlich ansehen, während andere mit sehr viel weniger zufrieden sind. Die Werte des Lebens ordnen sich klarer: Ein glückliches Leben geht mit Sicherheit, Geborgenheit, Bindung, Zuverlässigkeit, Liebe und Fröhlichkeit sowie Zufriedenheit als Grunderfahrung einher. Diese emotionalen Werte sind viel wesentlicher als materielle Dinge wie Geld oder Besitztümer. Und es war gleichzeitig auch eine merkwürdige Erfahrung: Waisenkinder leben in einem geschützten Haus mit Restriktionen und strengen Regeln deutlich besser als in zerstörten Familienstrukturen unter dem Einfluss von Gewalt und Armut.

Besonders wichtig ist es für mich nun auch nach der Rückkehr, von meinen Erlebnissen zu berichten und auf soziale Projekte wie dieses aufmerksam zu machen. Im besten Fall begeistert man andere, ein ähnliches Projekt zu unterstützen oder ein Sozialprojekt für vergleichbare Nichtregierungsorganisationen zu etablieren.

Hier also schon einmal herzlichen Dank für die Kooperation und die Unterstützung bei der Entwicklung dieses Projekts, besonders an Frau Witzel, das Organisationsteam um Herrn Gerke, Frau Rollinger und Herrn Teevs sowie an die Religionsfachgruppe, die sich für den Weihnachtsgottesdienst und die erste Kollekte engagiert hat.

Was steht im Waisenhaus an? / Wofür sollen die gesammelten Gelder verwendet werden?

Die bisher gesammelten Gelder (Bericht folgt demnächst) sollen zunächst in die Anschaffung mehrerer Tische und Stühle investiert werden, die zum Erledigen von Schularbeiten und zum Essen genutzt werden. Auch ist die Anschaffung eines neuen Küchenherdes notwendig. Die Außenanlage des Waisenhauses könnte mit Geldern zu einem kleinen Garten entwickelt werden.

Ich bin gespannt auf den weiteren Verlauf!

Ein Bericht von Svenja Cordes